Jürgen Teipel
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Jürgen Teipel - Unsere unbekannte Familie
Bis vor zehn Jahren hatte ich wenig mit Tieren zu tun und machte mir auch kaum Gedanken um Tiere. Am meisten noch dadurch, dass ich schon seit den Achtzigern kein Fleisch mehr aß, weil ich die Massentierhaltung einfach furchtbar fand (sicher aber auch, um nicht zur breiten Masse zu gehören, denn als Vegetarier war man damals noch eine Art Marsmensch).
Aber nun wurden mir im persönlichen Umfeld auf einmal Geschichten erzählt, in denen es auch immer wieder um besondere Erlebnisse mit Tieren ging. Dadurch merkte ich zum einen, wie unmittelbar so eine Tiergeschichte nicht nur bei mir, sondern auch bei den anderen Zuhörern zündete, aber auch, dass mein Leben einmal anders ausgesehen hatte. Dass Tiere für mich, vor allem zu Kinderzeiten, eine viel größere Rolle gespielt hatten.
Klar, Tiere sind anders als wir – aber sie sind auch nicht wesentlich anders. Ich glaube, wenn sie uns fremd vorkommen, dann deshalb, weil wir uns als Spezies so weit von unseren eigenen tierischen Wurzeln entfernt haben. Nicht nur, dass wir anders leben, wir haben oft auch keinen unmittelbaren Zugang mehr zu unserem Körper und unseren Gefühlen. Und bei den Tieren geht es gerade um diese Dinge. Nicht nur bei lebendigen Tieren, sondern auch in Geschichten; in eben jener archaischen, uns oft unbewussten Vorstellungswelt, von der wir uns ebenfalls immer weiter entfernen. Ich merkte bei diesen Erzählabenden, dass oft schon einfache Wörter wie Känguru oder Grashüpfer genügten, um jedem ein Schmunzeln entlocken. Tiere bedeuten uns etwas. Sie sind eine grundlegendere Version von uns selbst.
Ich fragte mich also: Wie können wir den Bezug zu diesen Basics wiederherstellen, zu dem, was wir an Unschuld, an Spontaneität, an Körperlichkeit verloren haben? Und können uns Tiere bei dieser Wiederherstellung vielleicht sogar helfen? Diese Fragen wollte ich mir allerdings nicht vornehmlich auf intellektueller Ebene beantworten lassen, sondern, wenn man den Intellekt als eine von vielen menschlichen Sinnesebenen begreift, auf allen Sinnesebenen. Ich wollte auch etwas über's Sehen, Hören, Riechen, Schmecken erfahren. Über Freude, Trauer und Wut. Und zwar ganz direkt. Aus der persönlichen Erfahrung der Menschen heraus.
Dazu lag es natürlich erst mal nahe, meinen Bekanntenkreis abzuklappern. Eine befreundete Popsängerin erzählte mir von ihrem Arzt, der gleichzeitig auch Tierarzt war. Ich weiß noch, wie ich staunte. »Was? Du gehst zum Tierarzt?« Aber eigentlich passte das ganz und gar zu ihrer unkonventionellen Art – und machte mich neugierig. Also besuchte ich den Tierarzt – Christian Torp, er wohnt in der Nähe von Kiel –, um einen ganz normalen Arbeitstag mit ihm zu verbringen. Wir frühstückten, fuhren los. Ich fühlte mich sofort wohl mit ihm. Netter Typ, wir waren gleich per du. Er erzählte, dass es heute um verschiedene kranke Pferde gehen würde.
Das erste Pferd – ein kleines schwarzes – stand alleine in einem niedrigen, eher düsteren Raum mit kleinen Fenstern – und wirkte einfach nur todtraurig. Es ließ sich so richtig hängen. Nun kam erst mal das, was Christian als »durch'n Zoll gehen« bezeichnete. Erst mal kennenlernen. Alles ganz ruhig und gemächlich. – Wir müssen noch zu vier oder fünf anderen Pferden im weiteren Umkreis von Kiel, aber wir scheinen ewig Zeit zu haben. Christian piekt mit dem Zeigefinger in eine weiche Stelle seitlich unter dem Ohr des Pferdes. Das ist seine Kontaktstelle, durch die er sich quasi einloggt. Er brummelt eine Weile vor sich hin, gibt sozusagen die Daten wieder, die er empfängt. »Du musst wieder fröhlicher werden«, sagt er. – Danach legt er dem Pferd ein bisschen die Hand auf. Meditiert ein bisschen vor sich hin. Und als wir rausgehen, steht Leonie – so heißt das Pferd – da wie eine Eins. Kuckt nicht mehr traurig aus dem Fenster. Sogar der Raum erscheint heller. Und das alles, obwohl Christian im eigentlichen Sinne nichts getan hat. Kein Mittel verabreicht hat. Nur seine persönliche Art von Akupunktur angewandt hat: Ohne Nadeln!
Und so geht das den ganzen Tag weiter. Pferde sind bissig – und sind es plötzlich nicht mehr (wobei in einem Fall das Bissigste an dem Pferd seine beiden Besitzerinnen waren). Pferde zucken bei Berührung eines bestimmten Punkts vor Schmerzen zusammen – und dann nicht mehr ... Christian löst Blockaden, wie er sagt, und er garantiert den Besitzern, dass diese Blockaden nie mehr wiederkommen. Und auch bei mir löst er ein paar Blockaden. Als ehemaliger Journalist ist mir die Skepsis, das kritische Hinterfragen in Fleisch und Blut übergegangen. Aber sogar ich muss mir am Ende des Tages eingestehen, dass ich noch kaum etwas Beeindruckenderes erlebt habe als diese Tour mit Christian Torp.
Danach kamen noch viele weitere Begegnungen mit Menschen, die zu Tieren eine enge Beziehung aufgebaut hatten. Zum Beispiel mit der Reittherapeutin Sibylle Wiemer, die ich insgesamt drei Mal an verschiedenen Orten traf und die mir von ihrem Pferd Piko erzählte, mit dem zusammen sie eine junge krebskranke Frau in den Tod begleitet hatte (Unsere unbekannte Familie, Suhrkamp, 2018). Oder wie Martina Schiestl, mit der ich im überdachten Innenhof eines Wiener Cafés saß, während sie mir fast drei Stunden lang von ihrer Arbeit mit Raben berichtete, für die sie – eine kluge, junge Forscherin – so richtig brannte.
Ich besuchte den Künstler René Nebas in dessen ich-weiß-nicht-wie-vieleckigen Wohn- und Arbeitstempel und war fasziniert von der Schilderung seiner Freundschaft mit einem riesigen Hängebauchschwein; saß bei der achtundsiebzigjährigen Frau Walser in der Küche, bei offenem Fenster, mit Blick auf die Arche, die sie aus ihrem Garten gemacht hatte, voll von Tieren; traf mich mit Maria Anna Müller und Rolf Beutler auf ihrer Hochalp an der Schweizer Grenze zu Italien und ließ mir von Rolf etwas über seine cleveren Hüte- und Herdenschutzhunde erzählen, während die Helden der Geschichten unter dem Tisch lagen und hin und wieder entschieden darauf drangen, jetzt sofort gestreichelt zu werden. Und schließlich die letzte Geschichte: die von Tierkommunikatorin Karin Müller, auf die Christian Torp mich schon vor Jahren aufmerksam gemacht hatte. Aber Tierkommunikation – das war mir damals doch allzu esoterisch erschienen. Jetzt dagegen: Überhaupt kein Problem! Natürlich erzählte Karin immer wieder von Situationen, die außerhalb meiner Erfahrungswelt lagen. Aber dass da jemand aus echter, eigener Erfahrung sprach, das war mir völlig klar. – Und auf einmal erwähnte sie Sibylle Wiemer, deren Therapiepferde ihrem Kind überhaupt erst ein schmerzfreies Leben ermöglicht hatten. Das neun Wochen alte Baby hatte das, was man früher als Schiefhals bezeichnete, weshalb es ständig schrie. Aber den drei, vier Ärzten, bei denen Mutter und Kind bis dato waren, war nichts Besseres eingefallen, als Medikamente gegen Dreimonatsblähungen zu verschreiben. Man erinnere sich: Sibylle Wiemer hatte mir viele Jahre zuvor in ganz anderem Zusammenhang von genau jenem Piko erzählt. Ich hatte das Gefühl: Ein Kreis schließt sich. Ich bin angekommen. Das Buch ist fertig.
Und vielleicht schloss sich sogar noch ein anderer Kreis. Denn als ich ein Jahr alt war, war bei mir ebenfalls eine Art »Schiefhals« diagnostiziert worden. Das Problem lag nur ein bisschen weiter unten. Im mittleren Rücken. Und ich hatte mir im späteren Leben oft gewünscht, dass es damals schon so sanfte Methoden wie die Pferdetherapie gegeben hätte. Was natürlich Anfang der Sechziger nicht mal denkbar war. Meine Mutter hatte nur die Wahl zwischen mehr oder weniger drakonischen Maßnahmen, die sich viele Jahre hinzogen – und konnte von Glück sagen, dass ich ein Tier hatte, den Wellensittich Kasimir, der auf mich aufpasste, wenn sie kurz mal Kohlen aus dem Keller holte. – Ich erinnere mich sehr gut an Kasimir. Ich nannte ihn Hansi, weil ich »Kasimir« nicht aussprechen konnte. Er saß oft auf dem Rand meines Gitterbettchens. Und in meiner kindlichen Vorstellungswelt – oder sagen wir es so: Ich wusste, dass er eine erwachsene Seele war, die auf mich aufpasste. Dass ich bei ihm aufgehoben war. Und das war bei mir Teil der Heilung.
Jürgen Teipel
Schondorf am Ammersee
Januar 2021